Der nun bald zwei Jahre währende russische Krieg gegen die Ukraine hat unermessliches Leid über die Menschen dort gebracht und die europäische Friedensordnung nachhaltig erschüttert. Der Krieg verändert auch die wirtschaftliche Statik in Mittel- und Osteuropa sowie Zentralasien. Gewichte verschieben sich, neue Transportwege werden erschlossen, alternative Investitionsstandorte, Energie- und Rohstoffpartner rücken in den Blickpunkt.
Die größte Herausforderung der kommenden Jahrzehnte ist der Wiederaufbau der Ukraine. Für diese Herkulesaufgabe braucht es das Engagement der privaten Wirtschaft. Die meisten deutschen Unternehmen in der Ukraine haben trotz des Krieges ihr Engagement fortgesetzt, nicht wenige setzen bereits Neuinvestitionen um, weil sie von der Zukunft des Standortes überzeugt sind. Die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine, die auf dem EU-Gipfel Mitte Dezember in Brüssel beschlossen wurde, ist ein entscheidender Impuls für die Umsetzung notwendiger Reformen, die sich positiv auf die Rahmenbedingungen für ausländische Investitionen und damit auf den Wiederaufbau auswirken werden.
Fast zwei Jahre nach Kriegsbeginn nehmen die Verschiebungen in den deutschen Wirtschaftsbeziehungen mit dem östlichen Europa Konturen an. Die Entflechtung vom russischen Markt verläuft in hohem Tempo. Unter den deutschen Handelspartnern weltweit ist Russland binnen eines Jahres von Rang 14 auf Rang 38 abgerutscht. Im Oktober 2023 fiel Russland beim Handelsumsatz bereits hinter die Ukraine und Kasachstan zurück. Deutschland hat sich nicht nur viel schneller als erwartet von russischen Energieimporten unabhängig gemacht. Viele deutsche Unternehmen haben die Sanktionen übererfüllt und ziehen sich unter Inkaufnahme hoher Verluste aus dem Russland-Geschäft zurück.
Nachbarländer profitieren
Vom weitgehenden Ausfall des russischen Marktes profitieren Länder in dessen Nachbarschaft, die sich erfolgreich als alternative Wirtschafts- und Handelspartner positionieren. Dazu gehören Kasachstan, Usbekistan, Armenien und Aserbaidschan. Große Zukunftschancen für die deutsche Wirtschaft liegen hier in der Produktion von grüner Energie und Wasserstoff, der Rohstoffförderung und Weiterverarbeitung, in der Modernisierung der Landwirtschaft und der Zusammenarbeit in der Berufsausbildung. Neue Handelswege wie der mittlere Korridor über den Kaukasus, das Kaspische Meer und Zentralasien geben diesem Wirtschaftsraum weitere Wachstumsimpulse.
Das Rückgrat des deutschen Osthandels bleiben die vier Visegrád-Staaten Polen, Tschechien, Ungarn und die Slowakei, mit denen Deutschland in den ersten zehn Monaten erneut mehr Waren handelte als mit China oder den USA. Polen ist inzwischen vor Italien der fünftgrößte deutsche Handelspartner weltweit. Mit dem Amtsantritt der neuen Regierung unter Donald Tusk verbinden wir nun die Hoffnung auf einen neuen kräftigen Aufschwung in den bilateralen Wirtschaftsbeziehungen. Ob bei der grünen Transformation, der Automatisierung und Digitalisierung der Industrie oder bei Forschung und Entwicklung: Deutschland und Polen können gemeinsam zum Innovationsmotor in der EU werden.
Für die deutsche Wirtschaft gewinnen neben den südosteuropäischen EU-Mitgliedern Rumänien, Bulgarien und Kroatien auch die Länder des Westlichen Balkans verstärkt an Bedeutung, gerade im Rahmen des Nearshorings. Diese Märkte rücken buchstäblich näher an uns heran. Die zunehmende Integration Südosteuropas in den europäischen Binnen- und Währungsraum schafft einen gemeinsamen Rechtsrahmen, reduziert Transaktionskosten und erleichtert Unternehmen so ihr tägliches Geschäft.
Gleiches gilt für die weitere Integration der Ukraine, Moldaus und Georgiens in den europäischen Binnenmarkt. Die Entscheidung des Europäischen Rats zur Eröffnung von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und Moldau und zur Verleihung des Kandidatenstatus an Georgien sendet die klare Botschaft, dass die EU diese Länder auf ihrem Weg der europäischen Integration weiter unterstützt.
Wichtig ist darüber hinaus die bessere Anbindung Zentralasiens und des Südkaukasus. Hier erwarten wir stärkere Impulse aus dem EU-Programm „Global Gateway“. Die Region hat eine Schlüsselfunktion für den Handel mit Asien. Hier dürfen wir China und anderen Wettbewerbern nicht das Feld überlassen.
Ost-Ausschuss unterstützt
Der Ost-Ausschuss bietet auch in diesem Jahr, in dem wir das 20-jährige Jubiläum der EU-Osterweiterung feiern, eine Fülle von Formaten, um deutschen Unternehmen den Weg in diese Region mit ihren 400 Millionen Menschen zu ebnen. Dazu gehören die Beteiligung an der Ukraine Recovery Conference im Juni 2024 in Berlin und am Gipfel zum zehnjährigen Jubiläum des Berlin-Prozesses für die Länder des Westlichen Balkans sowie zahlreiche weitere Veranstaltungen und Delegationsreisen unter anderem nach Polen, Montenegro, Bulgarien, Slowenien, Kasachstan, Usbekistan und in den Südlichen Kaukasus.
Gerade weil der weltweite Mainstream derzeit Richtung Protektionismus und Abschottung geht, müssen wir uns noch stärker für eine möglichst hindernisfreie Weltordnung positionieren und andere davon überzeugen. Als exportabhängiges Land sind für uns neue Handelshürden und zunehmender Protektionismus eine ständige Gefahr. Deshalb ist es so wichtig, an der Verwirklichung eines größeren europäischen Wirtschaftsraums zu arbeiten und bestehende Hindernisse in Form von Zoll- und Visaschranken und unterschiedlichen Standards in Europa abzubauen.
Cathrina Claas-Mühlhäuser, Vorsitzende des Ost-Ausschusses
Der Beitrag erschien zuerst in den "Nachrichten für Außenhandel" vom 5.1.2024
Andreas Metz
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